Rede von Jonathan Zaphire vor den reichsten Menschen der Erde
»Meine unverehrten Damen und Herren, überschätzte Gäste, ich begrüße Sie
zu diesem zwölften Wohltätigkeitsbrunch für notleidende Kinder in Afrika;
ein Motto, das ebenso verlogen ist wie das Publikum, zu dem ich heute
sprechen muss.«
Jonathan Zaphire sah über den Rand seiner schwarzen Hornbrille über das
Rednerpult hinweg zu den zweiunddreißig vollbesetzten Tischen im Ballsaal
des Ritz-Carlton.
Das Scheinwerferlicht blendete ihn ein wenig, weshalb der
einundsiebzigjährige ehemals reichste Mann der Welt wahrscheinlich noch
verkniffener wirkte als sonst, aber soweit er es mit seinen müden Augen
erkennen konnte, lächelte die Mehrzahl der Anwesenden. Nur Mitglieder der
angeblich feinen Gesellschaft und weltbekannte Prominente hatten Einlass
gefunden: Politiker, Manager, Künstler und Adlige aus über zehn Nationen.
Rechts vorne, in der ersten Reihe, saß der deutsche Wirtschaftsminister mit
seiner Frau direkt neben einem russischen Medienmogul, der erst letzte
Woche den Tabellenführer der ersten Liga im spanischen Profifußball gekauft
hatte. Zaphire entdeckte einen niederländischen Internetmilliardär, den man
neben einen amerikanischen Rockstar gesetzt hatte. Keiner der hohen Gäste
wunderte oder beschwerte sich gar über die beleidigende Anrede. Weder die
Eigentümerin des größten französischen Radiosenders noch der japanische
Reeder. Keine empörten Zwischenrufe, niemand verließ den Saal. Sie hatten
es nicht anders erwartet.
Zaphire sagte das, was er dachte, und die Menschen liebten ihn dafür.
»Im vierzehnten Jahrhundert gab es eine wunderbare Praxis der
katholischen Kirche«, fuhr er mit der Rede fort, die er wie immer frei vortrug,
ohne auch nur ein einziges Mal auf seine Notizen zu schauen. »Die Praxis des
Ablasshandels. Hatte man gesündigt, warf man etwas Geld in den
Klingelbeutel, und – schwups – war man exkulpiert. Wenn ich meinen Blick
heute in die Runde schweifen lasse und all die feisten Männerleiber sehe, die
selbstgefällig die Hände ihrer ausgehungerten, lächerlich jungen Ehefrauen
tätscheln, dann scheint es mir, als glaubten viele von Ihnen, diese Unsitte des
Mittelalters wäre noch nicht abgeschafft.«
Statt beleidigtem Gemurmel erntete Zaphire Gelächter.
Was für ein degenerierter Haufen.
»Sie sitzen hier auf Ihren breiten Ärschen, säbeln mit einem Silbermesser
durch das Kotelett und hoffen, mit jedem Bissen ein wenig mehr aus dem
Radius Ihres persönlichen Fegefeuers treten zu dürfen.«
Zaphire schüttelte abfällig den Kopf. Seine faltige Haut, die sich wie bei
einem Hund von den Wangen über die Kieferknochen wölbte, schlackerte bei
dieser Bewegung. Er war kein schöner Mann, war es nie gewesen. Krumm,
verwachsen, abstehende Ohren und schiefe Zähne. Als seine erste Frau mit
Zwillingen schwanger ging, sagte er Freunden, er würde dem lieben Gott die
Hälfte seiner damals noch jungen Firma schenken, wenn die Kinder nicht
nach ihm kämen. Am Ende kamen sie gar nicht. Der lokalen Presse war die
Nachricht von dem Tod seiner Frau und den Babys bei der Geburt nur eine
halbe Spalte wert gewesen. Damals war Zaphire noch nicht so bedeutend wie
heute. Und niemals hätte er seine Zuhörer bei Ansprachen derart beschimpfen
dürfen.
»Ihr bigotten, verlogenen Heuchler wollt euch freikaufen. Aber ich habe
eine schlechte Nachricht für euch alle im Raum: Ihr habt die fünfzehnhundert
Dollar für das Sechs-Gänge-Menü umsonst bezahlt. Eure Sünden werden
euch nicht vergeben. Ihr alle bleibt das, was ihr seid: Mörder. Und ihr alle
werdet eines Tages dafür büßen.«
Als Zaphire vor sieben Jahren zum ersten Mal bei einem Galadinner der
Kragen geplatzt war, hatte man ihm ungefähr an dieser Stelle seiner Festrede
das Mikrophon abgedreht. Heute, nachdem die Videoaufzeichnung des
legendären Wutausbruchs zweihundert Millionen Mal auf YouTube
angeklickt worden war, genoss der Chef von Fairgreen Pharmaceutics
Kultstatus und Narrenfreiheit. Ein Mann, der von seinen Anhängern wie ein
Popstar verehrt wurde – spätestens, seitdem er den Friedensnobelpreis mit den
Worten ausgeschlagen hatte: »Den habe ich genauso wenig verdient wie
Hitler.«
Natürlich hatte er auch Feinde. Mächtige Feinde.
Allen voran den Chefredakteuren seriöser Medien war es suspekt, dass
ausgerechnet der Boss des einst größten Pharmaunternehmens der Welt sich
plötzlich für Menschenrechte engagierte. Niemand hatte zu jener Zeit
geglaubt, »der Geier« (ein Spitzname aus Tagen, an denen er über
angeschlagene Konkurrenzfirmen so lange »gekreist« war, bis sie den
Insolvenztod starben und er sie sich einverleiben konnte) würde wirklich
95 Prozent seines Vermögens einer privaten Stiftung übertragen, die den
bescheidenen Namen »Worldsaver« trug. Aber er hatte es tatsächlich getan,
zum Leidwesen seiner dritten und nunmehr geschiedenen Ehefrau Tiffany,
die auf die Hälfte der 242 Milliarden spekuliert hatte und sich nun mit einem
monatlichen Taschengeld von 47000 Dollar einem Leben in der Gosse nahe
sah.
Doch es war nicht der Verzicht auf den Großteil seines Geldes, was ihm
den (abgelehnten) Nobelpreis eingebracht hatte (denn auch mit den restlichen
fünf Prozent konnte er noch sehr luxuriös leben), und auch nicht das Gute,
was die Worldsaver-Stiftung nachweislich mit seinen Milliarden vollbrachte.
Seine Anerkennung, auch in den Medien, schnellte in atmosphärische Höhen,
als er Zaphire Medicals in Fairgreen Pharmaceutics umwandelte, ein Non-
Profit-Unternehmen, das all seine Patente fortan dazu nutzte, Medikamente
zum Selbstkostenpreis unter den Ärmsten der Armen in aller Welt zu
verteilen.
Weil ich es dem Planeten schuldig bin, meine Fehler wieder wettzumachen,
bevor ich sterbe, hatte er einen guten Freund wissen lassen, mit dem er heute
kein Wort mehr wechselte, weil dieser das Zitat der Presse zugespielt hatte.
»Ich würde Ihnen jetzt gerne einen jungen Mann vorstellen«, sagte Zaphire
mit der ihm eigenen, näselnd arroganten Stimme, und der Saal verdunkelte
sich. Ein Beamer warf ein schwammiges bläuliches Bild auf die Leinwand in
seinem Rücken.
»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber ich nenne ihn Akin, was in seiner
afrikanischen Muttersprache so viel bedeutet wie Kämpfer, Krieger oder
mutiger Mann. Und das ist Akin in jedem Fall, im Gegensatz zu Ihnen: ein
sehr mutiger Mann.«
Das Bild wurde schärfer, dennoch gab es noch nicht viel darauf zu sehen,
nur einen kleinen schwarzen Punkt auf einer bewegten blaugrauen
Oberfläche.
»Die Satellitenaufnahmen fielen uns zufällig in die Hände.«
Das Publikum lachte, einige klatschten. Es war ein offenes Geheimnis, dass
Zaphires Stiftung einen Teil ihres Vermögens in Aufbau und Pflege einer
privaten, ungenehmigten Satellitenüberwachung steckte. Worldsaver ließ die
Ländergrenzen von Krisenherden in aller Welt, etwa die vom Sudan zum
ölreichen Südsudan, beobachten und meldete der Öffentlichkeit jeden
Hinweis auf drohende Völker- und Menschenrechtsverletzungen, zum
Beispiel durch eine Mobilmachung des Militärs.
»Akin, den ich auf etwa zwanzig Jahre schätze, treibt auf dem
Schlauchboot, das Sie jetzt hoffentlich etwas besser erkennen, nicht alleine.«
Der Kameraausschnitt war konturreicher geworden.
»Zur Orientierung: Wir befinden uns im Mittelmeer, etwa hundertfünfzig
Kilometer von der maltesischen Küste entfernt. Die Sicht ist gut, kein
Wellengang, kein Wind, auch die Sonne ist zu dieser Jahreszeit kein Problem
für Akin und die anderen Flüchtlinge im Boot. Sehen Sie die Striche da?«
Zaphire deutete mit einem Laserbeamer auf die Leinwand.
»Das sind acht Beine. Sie liegen wie Mikadostäbchen über- und
durcheinander und haben sich in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht
einen Millimeter bewegt. Mit anderen Worten: Die vier weiteren Insassen des
Schlauchboots – ein Kind, eine Frau, vermutlich seine Mutter oder Schwester,
und zwei junge Männer, womöglich seine Brüder – sind tot. Und Akin, der es
wohl noch nicht übers Herz gebracht hat, seine Schicksalsgenossen ins Meer
zu werfen, wird es auch bald sein, denn Wasserkanister, Paddel und
Essensvorräte hat ein gewaltiger Sturm vor sieben Tagen über Bord gerissen.«
Zaphire stützte sich mit beiden Armen auf dem Pult ab und beugte sich
drohend nach vorne.
»Auch Akin wird sterben. Falsch. Er wird ermordet. In nur wenigen
Stunden. Von Ihnen hier im Saal.«
Stille. Auf den wenigen Mienen, die er von hier oben sehen konnte,
flackerte ein unsicheres Lächeln, aber niemand wagte, etwas zu sagen.
Zaphire hörte nicht einmal mehr das Klappern von Besteck oder das Klirren
der Gläser.
»Vermutlich ist Ihnen das Leben dieses afrikanischen Jungen egal.
Wahrscheinlich erschrecken Sie jetzt viel mehr, wenn ich Ihnen verrate, dass
das Fleisch auf Ihrem Porzellanteller kein Ibaiona-Schwein ist, sondern aus
herkömmlicher Massentierhaltung stammt.«
herkömmlicher Massentierhaltung stammt.«
Auch wenn es kein Witz war, nutzten einige der Anwesenden den Moment
für ein befreiendes Auflachen.
»Ich bitte Sie, einmal den Teller zu heben.«
Geschäftige Unruhe machte sich breit. Lautes Gemurmel brandete auf, als
die Gäste ein Stück Papier fanden, das auf Wunsch Zaphires unter jedes
Gedeck gelegt worden war.
Lakonisch sagte er: »Was Sie jetzt in den Händen halten, ist ein
Beipackzettel, wie er in Millionen von Medikamentenpackungen steckt. Und
wie er jedem im Supermarkt gekauften Schnitzel beiliegen müsste:
Tylosinphosphat, Olaquindox, Aminosidin, Clorsulon, Clavulansäure,
Levamisol, Azaperon – die Liste ist endlos. Sogar Aspirin wurde von unserem
Labor nachgewiesen. Und das ist ja auch ganz logisch.«
Er räusperte sich und nippte kurz an dem bereitstehenden Wasserglas.
»Wenn ich Sie hier alle anketten und in einem lichtlosen Raum auf
wenigen Quadratmetern zusammenpferchen würde, wenn ich Ihnen wie den
Schweinen im Stall unserer Fleischfabriken die Eckzähne herausbräche, damit
Sie Ihren Platznachbarn nicht totbeißen können, und wenn ich Sie dann mit
genmanipuliertem Billigfraß und Wachstumshormonen in
Blitzgeschwindigkeit bis zur Schlachtreife hochmästen würde, die nebenbei
bemerkt viele der Anwesenden hier im Saal schon längst überschritten haben,
dann ist es klar, dass mein Massenmenschschlachtungs-Geschäftsmodell ohne
Einsatz von Schmerzmitteln, Antibiotika, Psychopharmaka und Antiparasitika
nicht auskommen könnte, ganz zu schweigen von den Tonnen an Sedativa,
damit Sie auf dem Transport zum Schlachthof nicht randalieren, bevor ich Sie
dort lebendig in ein Brühbad kippen kann.«
Zaphire machte eine abwinkende Handbewegung, als wollte er erwartete
Einwände gleich vorwegnehmen.
»Keine Sorge. Ihnen will niemand hier an die verfettete Haut. Ich wollte
nur verdeutlichen, dass wir ohne Berge an Pillen, Spritzen und Tabletten
niemals in der Lage wären, den mörderischen Hunger unserer industriellen
Schlachthöfe zu stillen. In einem herkömmlichen Betrieb in den USA werden
tausend Schweine getötet, und zwar stündlich!«
Er sah einige im Publikum den Kopf schütteln. In den vorderen Reihen aß
niemand mehr.
niemand mehr.
»Sie bezweifeln diese gewaltige Zahl? Sie haben recht. In den meisten
Betrieben sind es nicht tausend, sondern fünfzehnhundert Tiere, wir
produzieren ja schließlich auch für den Export, womit wir wieder bei Akin
wären.«
Zaphire trat vom Rednerpult weg in die Mitte der Bühne. »Meine Damen
und Herren, machen Sie bitte einmal das, was Sie am besten können.
Vergessen Sie einfach, was Sie wissen.«
Er lächelte diabolisch.
»Es geht hier nicht um die Umweltschäden, die ein einziger Hamburger
anrichtet, weil für seine Herstellung so viel Wasser verschmutzt wird, wie Sie
für siebzehn Duschbäder brauchen. Vergessen Sie, dass ein Drittel aller
fossilen Brennstoffe der USA für die industrielle Fleischerzeugung
draufgehen. Und ignorieren Sie die Tatsache, dass Sie nur einen Blick auf die
tumben Breitarschgesichter vor der Kasse eines Fastfood-Restaurants werfen
müssen, um zu begreifen, dass wir viel zu viel Fleisch essen, während alle
sechs Sekunden in der Welt ein Kind an Hunger stirbt.«
Zaphire drehte sich zur Leinwand. »Oder verdurstet, wie Akin in wenigen
Stunden, wenn sein Schlauchboot nicht vorher kentert.«
Auf der Videoaufnahme sah man, wie sich der junge Afrikaner mit beiden
Händen den Kopf hielt. Vermutlich wegen der rasenden Schmerzen, die eine
Dehydrierung auslöst.
»Aber was hat das Stück Sondermüll auf Ihrem Teller nun mit Akins
Schicksal zu tun, werden Sie sich vielleicht fragen, wenn Sie mir überhaupt
noch zuhören und nicht gerade heimlich unter dem Tisch mit dem Handy die
Börsenkurse checken.«
Viele nickten. Ein Mann lachte laut auf, offenbar ertappt. Zaphire sah böse
in seine Richtung.
»Wir produzieren nicht nur den ungenießbaren, pharmazeutisch
verseuchten Fleischabfall auf Ihrem Teller, den wir hochtrabend Lebensmittel
nennen. Wir erzeugen sogar viel zu viel von dem Müll. Die Tiere, die wir
allein in den USA abschlachten, produzieren neununddreißig Tonnen Scheiße
in der Sekunde! Hundertdreißigmal mehr Kacke, als sich die gesamte
Weltbevölkerung aus dem Arsch drückt. Unsere Viehzüchter kurbeln diese im
wahrsten Sinne des Wortes beschissene Überproduktion an, weil sie Geld
dafür bekommen. Viel Geld. Dreihundertfünfzig Milliarden. Das ist die Zahl,
um die es geht. Dreihundertfünfzigtausend Millionen US-Dollar haben die
Landwirte und Bauern der OECD-Staaten an Export- und Agrarsubventionen
im letzten Jahr erhalten. Das sind Ihre Steuergelder! Sie finanzieren den
Export von Billigfleisch, vor allem in die Regionen, in denen man nicht
wählerisch sein darf, wenn man nicht verhungern will. Nach Accra zum
Beispiel, einem Markt in Ghana, und hier schließt sich der Kreis. Noch vor
einem Jahr bot Akins Vater in Accra seine Waren feil, um die Familie zu
ernähren.«
Das war natürlich eine reine Mutmaßung, aber sie machte die Geschichte
plastischer, und das war notwendig, wenn Zaphire die Aufmerksamkeit der
Zuhörer nicht verlieren wollte.
»Bei Akins Vater kostete ein Hühnchen zwei Dollar. Aber dank den
Exportsubventionen können die Bauern der EU ihren Fleischmüll zu
Dumpingpreisen nach Afrika schippern. Und deshalb kostet das ausländische
Huhn dort nur fünfzig Cent. Dreimal dürfen Sie raten, bei wem die
Bevölkerung kauft: bei Akins Vater oder bei dem ausländischen Importeur?«
Zaphire trat zurück ans Pult.
»Ihr Hunger auf Fleisch, meine Damen und Herren, und Ihre verdammte
Ignoranz frisst Menschen. Menschen wie Akin. Während Millionen Kinder
verhungern, verbrennen wir Getreide, um daraus Biosprit zu machen.
Getreide, das dadurch auf dem Weltmarkt immer teurer wird, unbezahlbar für
eine afrikanische Familie, auch weil die Bank, der Sie hier im Saal Ihr
erschlichenes oder ererbtes Geld anvertrauen, mit diesem Geld auf steigende
Lebensmittelpreise an den Börsen wettet. Gleichzeitig ruinieren wir mit
Schleuderpreisen die einheimische Viehzucht in den Entwicklungsländern.
Willkommen in der freien Marktwirtschaft.«
Zaphire wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unzählige Male hatte er
diese und andere Reden bereits gehalten. Seine Wut entflammte immer
wieder neu.
»Akin hat sich ein Schlauchboot gesucht, um auf den Kontinent zu fliehen,
der sein Elend verschuldet hat. Er wird nicht weit kommen, denn immerhin
wurden weitere hundert Millionen an Steuergeldern jährlich in Frontex
investiert, eine Armee, die keine Sau kennt, weil man nicht so gerne darüber
spricht, dass unsere europäischen Bündnispartner gegen die Nussschalen
spricht, dass unsere europäischen Bündnispartner gegen die Nussschalen
voller verzweifelter Elendsflüchtlinge mit hochgerüsteten Abfangschiffen,
Kampfhubschraubern und Überwachungsflugzeugen vorgehen.«
Zaphire nahm die Brille ab und tupfte sich mit einem Taschentuch etwas
Schweiß von der Stirn.
»Ein mit Nachtsichtkamera ausgestatteter Frontex-Hubschrauber
beobachtet Akins Schlauchboot in diesem Moment, während ich zu Ihnen
spreche. Die Soldaten haben in den letzten Tagen vier Menschen beim
Sterben zugesehen und den Befehl gegeben, keine Hilfe zu holen.«
Wütend setzte sich Zaphire seine Brille wieder auf.
»Dank Frontex sind alleine im letzten Jahr siebzigtausend Flüchtlinge im
Mittelmeer und Atlantik ersoffen. Und während die Leichen in den Wellen
versinken oder die Frechheit besitzen, die Urlauber beim Bräunen zu stören,
weil sie zu Dutzenden am Strand von Gran Canaria angespült werden,
betanken wir unsere SUVs, fahren durch einen Drive-in und beißen in einen
Hamburger, der uns fetter, kränker und dümmer macht. Und weil wir für ihn
nicht mehr als einen Dollar ausgeben wollen, obwohl er, sämtliche
Umweltschäden eingerechnet, hundertachtzig Euro kosten müsste, werden
Jahr für Jahr neue Massenställe und Schlachthofanlagen genehmigt, die nicht
nur für die Tiere, sondern für alle Menschen tödlich sind.«
Applaus brandete auf, den Zaphire ungeduldig überbrüllte.
»Ghana wollte sich übrigens wehren. Wollte die Importzölle auf
eingeführtes EU-Fleisch anheben, damit die einheimischen Viehzüchter eine
Chance haben zu überleben. Darauf drohte die Welthandelsorganisation, die
WHO, die von vielen Idioten hier im Saal unterstützt wird, mit Sanktionen.
Die Folge: Menschen wie Akin sind so verzweifelt, dass sie den Tod in Kauf
nehmen, weil sie so oder so sterben: entweder zu Hause oder auf der Flucht.
Dank feisten Drecksäcken wie Ihnen, meine Damen und Herren, die glauben,
nur weil Sie einmal die Woche im Biomarkt einkaufen und hin und wieder die
Spendenbörse aufschnüren, wäre alles im Lot.«
Zaphire schlug mit der flachen Hand auf das Rednerpult.
»Aber das ist es nicht. Nichts ist im Lot. Wenn Sie hier und heute Abend
aufstehen und sagen: ›Ich mache es so wie du, Jonathan. Ich spende
95 Prozent meines gesamten Einkommens‹, dann könnte ich Ihnen
womöglich bei einem Gespräch in die Augen sehen, ohne Ihnen gleich ins
Gesicht zu spucken.«
Er trank einen letzten Schluck Wasser und atmete tief durch. Jetzt war es
Zeit, die Bombe platzen zu lassen.
»Aber da ich nicht annehme, dass Sie Ihr Leben grundlegend verändern
wollen, werde ich Ihnen nicht das Impfmittel gegen die Manila-Grippe zur
Verfügung stellen.«
Das Publikum benahm sich wie ein kleines Kind, das unerwartet stolpert.
Es wurde ruhig, sah sich um und begann erst nach einer Schrecksekunde zu
plärren.
Der Satellitenstream auf der Leinwand war unterdessen Bildern aus der
Intensivstation eines Krankenhauses gewichen. Sie waren noch verstörender
als die von dem Boot auf dem Mittelmeer, weil sie dem Beobachter nicht
erlaubten, eine Distanz zu dem Grauen aufzubauen. Ein Mann
undefinierbaren Alters hustete Blut, während sein Körper von Krämpfen
geschüttelt wurde. Ärzte betrachteten ihn hilflos durch eine Glasscheibe.
»Erst Nasenbluten, dann Halsschmerzen. Was wie eine ungewöhnliche
Erkältung beginnt, geht schnell in eine Lungenentzündung über, begleitet von
Ganzkörperspasmen, die irgendwann das Gehirn erreichen. Bis zum heutigen
Tag sind nach offiziellen Angaben zwölftausendachthundert Menschen
infiziert, zweitausend von ihnen sind bereits an den Folgen der Manila-Grippe
gestorben. Wenn Sie die Nachrichten verfolgt haben, wissen Sie, dass es
Monate gedauert hat, ein wirksames Medikament zu entwickeln, auch weil
wir alle so viel antibiotikaverseuchtes Fleisch gefressen und damit resistente
Keime gezüchtet haben – aber hey, das waren uns die Chicken Wings doch
wert, oder?«
Zaphire lächelte angesichts der Dummheit der Menschen im Saal.
Niemandem fiel auf, dass Antibiotika bei einer viralen Infektion eigentlich
gar nicht wirksam waren. Natürlich wäre es korrekter gewesen, die
Anwesenden über die besondere bakterienähnliche Komponente des Manila-
Erregers aufzuklären, aber wozu sich für diese Ignoranten die Mühe machen?
Während die Leinwand schwarz und das Licht im Saal wieder heller
wurde, bat er um Ruhe für seine letzte, schwer verdauliche Botschaft des
Tages: »Nun will ich Sie nicht nur mit schlechten Nachrichten in Ihr
bedeutungsloses Leben entlassen. Die Produktion von ZetFlu läuft auf
bedeutungsloses Leben entlassen. Die Produktion von ZetFlu läuft auf
Hochtouren. Wie Sie vielleicht der Tagespresse entnommen haben, wirkt
dieses Mittel nicht allein virostatisch. Das heißt, es hemmt nicht nur die
Neubildung und Vermehrung der Manila-Grippe-Viren, sondern es eliminiert
und inaktiviert zudem bereits die im Körper vorhandenen Erreger.«
Auf der Leinwand gab es einen Zeitsprung. Der Mann, der sich eben noch
in Krämpfen gewunden hatte, saß jetzt auf der Bettkante. Er war noch von der
Krankheit gezeichnet, aber es ging ihm immerhin so viel besser, dass er in die
Kamera lächeln konnte.
»Wie gewohnt liefern wir den Wirkstoff zum Selbstkostenpreis an über
tausend Worldsaver-Stützpunkte in Entwicklungsländern aus. Allerdings
erreichen mich aktuell verstörende Nachrichten aus den Favelas von Recife
und São Paulo sowie aus den Slums in Bangladesch, Manila, Kairo und
anderen Megastädten. Wie es scheint, sperren die Militärs dort unter dem
Vorwand der Quarantäne großflächig die Elendsquartiere ab, um die
Slumbewohner von der Medikamentenausgabe auszuschließen. Die Reichen
haben Angst, das Millionenheer der Armen könnte in die Städte marschieren
und ihnen die wirksamen Tabletten wegnehmen.«
Unruhiges Gemurmel füllte den Saal. Beste Voraussetzungen, um die
Bombe höchst wirkungsvoll platzen zu lassen.
»Aus diesem Grund überlege ich, die Produktionsströme umzulenken. Seit
Wochen liefert Fairgreen die Medikamentenchargen in gleichberechtigt
verteilten Mengen an Apotheken, Kliniken und niedergelassene Ärzte. Wegen
der besseren Infrastruktur ist die ZetFlu-Versorgung in Europa und den USA
natürlich sehr viel zuverlässiger. Ab übermorgen früh, acht Uhr, rechnen
meine Controller mit einer Verteilkapazität von über 50 Prozent in der
westlichen Welt. Und das, denke ich, sollten wir angesichts der skandalösen
Vorfälle in Indien, Südostasien, Südamerika und Afrika sofort ändern.«
»Und wie?«, rief ein Mann mit heller Stimme in den Saal hinein.
»Das will ich Ihnen sagen. Indem ich die Laster und Flugzeuge umlenke
und die ZetFlu-Auslieferung ab sofort ausschließlich für Entwicklungs- und
Schwellenländer genehmige.«
Das Raunen wurde lauter. Missgestimmter. Die ersten Gäste standen auf
und riefen etwas in den Saal hinein, das ohne Mikrophonverstärkung jedoch
nicht bei Zaphire ankam.
»Wenn es mir möglich ist, werde ich auch bereits erfolgte Lieferungen
rückgängig machen. Es wäre mir eine Freude, wenn es Ihnen genauso erginge
wie den Slumbewohnern in Lupang Pangako. Dass Sie sich sterbeelend
fühlen, Ihnen das Blut aus der Nase schießt, sie aber nicht an das helfende
Medikament kommen. Dann würden Sie endlich lernen, dass man sich mit
Geld eben doch nicht alles kaufen kann. Jedenfalls nicht meinen Wirkstoff.
Aber ganz sicher mehr von dem Kotelett auf Ihrem Teller, langen Sie da ruhig
zu. Vielleicht wirkt ja zufällig eine der Pillen, die das arme Schwein vor
seinem Tod herunterwürgen musste. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.«
Aus:
Noah von Sebastian Fitzek
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